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Aus aktuellem Anlass:
Panik und Panikmythos

Dr. habil. Elke M. Geenen - 25.03.2011

„Panik“ als Ausdruck eines Konfliktes um knappe Güter

Immer wieder werden in Krisen oder bei Katastrophen Verhaltensweisen von Menschen als Panik etikettiert. Nicht nur, dass Massenmedien diesen Mythos pflegen, ohne zu hinterfragen, worum es sich bei den so etikettierten Phänomenen eigentlich handelt. Auch von sogenannten Krisenforschern wird der Panikmythos gerne bemüht, auch wenn seit Jahrzehnten von kompetenter Seite in einer Vielzahl empirischer Studien nachgewiesen werden konnte, dass es sich in der Realität um ein höchst seltenes Phänomen handelt.

Worum aber geht es, wenn „Hamsterkäufe“ oder „Panikkäufe“ stattfinden? Wenn sich derzeit, z. B. in Japan, Menschen mit abgepackten Wasserflaschen eindecken oder die Regale von Lebensmittelgeschäften leerkaufen? Oder aber, wenn sie angesichts einer Wirtschaftskrise, in der falsch beratene Anleger sich auf dubiose Fonds einließen und darüber ihr Privatvermögen verloren, nunmehr in „Betongold“ (z. B. Eigentumswohnungen und Häuser) zu überhöhten Preisen investieren.

Der Begriff „Panik“ ist keineswegs analytisch, sondern ein Etikett, das nichts erklärt. Vielmehr bezeichnet er gerade das Nichtverstehen derjenigen, die diesen Begriff unreflektiert verwenden. Denn der Begriff impliziert Irrationalität individuellen Handelns - und genau darum geht es in der überwältigenden Zahl der Fälle, die als „Panik“ etikettiert werden, gerade nicht.

Denn hinter fast allen Fällen, die als „Panik“ etikettiert werden, stehen gesellschaftliche Konflikte. Im Kern geht es um den Zugang zu knappen Gütern.

Knapp müssen Güter nicht im materiellen Sinne sein. Auch Vertrauen oder Sicherheitsgefühl können in einer Gesellschaft knapp werden. Denn wenn – etwa von politischer Seite – signalisiert wird, dass nichts mehr so sein wird wie vor einem Ereignis (z. B. vor dem Super-GAU von Tschernobyl oder vor den jüngsten Reaktorunfällen in Japan) bedeutet dies für die Menschen, dass sichere Zukunftserwartungen wegbrechen. Der Einzelne fragt sich, wie wird es werden? Die prinzipielle Zukunftsunsicherheit wird durch die politische Botschaft – die nicht klarer ist als das Orakel von Delphi – symbolisch aufgedoppelt. Angesichts von Gefahren ist das aus der je individuellen und kollektiven Weltbeobachtung resultierende Handeln darauf gerichtet, die Zukunftsunsicherheit einzugrenzen.

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Bedürfnis- und Zukunftsorientierung

Der Wille der Menschen, das eigene Überleben zu sichern und die fundamentalen Bedürfnisse zu stillen, ist grundlegend. Dieser Überlebenswille selbst ist noch vorrational, selbstverständlich nicht irrational. Die zentralen Mittel, um die grundlegenden Bedürfnisse zu stillen, bilden Luft zum Atmen, Raum für das Individuum, Wasser und Lebensmittel. Hinzu treten Bedürfnisse nach einem Mindestmaß an Sicherheit und  Vertrauen. Im Alltag scheinen diese materiellen und immateriellen Güter in hinreichendem Maße verfügbar zu sein, so dass es über den Zugang zu ihnen nicht zu Konflikten kommt.

Sehen Menschen jedoch in besonderen Situationen, in Krisen und Katastrophen die Gefahr, dass ihnen der Zugang zu diesen lebenswichtigen Gütern verwehrt wird oder verschlossen bleibt, kommt es zu jenen Phänomenen, die in einer oberflächlichen Perspektive als „Panik“ etikettiert werden. Im Kern steht dahinter ein antizipierter (vorausgedachter) oder tatsächlich beobachteter Verteilungskonflikt um knappe Güter.

Das Handeln des Einzelnen ist angesichts dieses Konfliktes keineswegs „panisch“ oder „irrational“, sondern in eine ungewisse Zukunft hinein vorausplanend. Dabei beobachtet jeder und jede Einzelne auch das Handeln und die Haltung anderer. Die Knappheit kann also auch daraus abgeleitet werden, dass andere sich mit käuflich erwerbbarem Wasser (angesichts radioaktiver Kontaminierung von Oberflächenwässern, die der Trinkwasserversorgung dienen) oder mit Lebensmitteln eindecken. Der tatsächlich bestehende Verteilungskonflikt wird – da er gesamtgesellschaftlich und politisch nicht hinreichend und adäquat bearbeitet und geregelt wird – individuell „gelöst“. Das heißt, individuell wird der Verlust des Zugangs zu einem für wichtig gehaltenen Gut antizipiert und für die Engpasssituation geplant.

Dieses Verhalten ist individuell rational, nicht nur weil die Absicherung der Grundbedürfnisse das individuelle Hintergrundvertrauen erhöht und sich der Einzelne, wenn Vorräte zum Überleben vorhanden sind, anderen Fragen zuwenden kann. Menschen haben evolutionsgeschichtlich tiefgreifende Erfahrungen mit der Bedeutung der Absicherung ihrer Bedürfnisse in Not- und Krisenzeiten, in Kriegen und bei Katastrophen erworben. Dieses evolutionär tradierte Wissen – das durch entsprechende Ereignisse von Zeit zu Zeit reaktiviert wird – ist erhaltungsrational für die Menschen.

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Die Asymmetrie der Perspektiven auf knappe Güter und das Bevölkerungsverhalten

Die Panik-Etikettierer, darunter insbesondere die Massenmedien, begehen – neben der Ignoranz gegenüber der hier skizzierten Konflikt- und Bedürfnisstruktur – einen weiteren Fehler: Sie übersehen, dass sie aus einer anderen Perspektive denken als die Bürgerinnen und Bürger, die sie als irrational diffamieren. Sie reklamieren nämlich für sich selbst eine gesellschaftliche Gesamtperspektive, also eine Art Vogelperspektive, von der aus sie auf die Phänomene blicken. So werden Experten befragt, ob das Wasser wirklich so gefährlich für den Einzelnen sei, oder ob etwa in Deutschland mit radioaktiven Gefahren zu rechnen sei (wenn etwa berichtet wird, dass sich Menschen mit haltbaren Lebensmitteln eindecken). Da die Experten durchweg die Risiken als gering einschätzen, die solche Vorratsbildungen erforderlich machten, wird von der Rationalität der Expertenperspektive auf die Rationalität der Bevölkerungsperspektive geschlossen. Dazwischen liegt jedoch eine prinzipielle Asymmetrie. Denn die Experten können Risiken nur auf der Grundlage vergangener Erfahrungen einschätzen (epignostisch), sie sind also perspektivisch vergangenheitsorientiert, während die Menschen, die sich für oder gegen Bevorratung entscheiden, eine Prognose über die Zukunft wagen. Es ist ein Gemeinplatz, dass die Zukunft offen und unsicher ist. Krisen und Katastrophen erhöhen nicht die Offenheit oder Unsicherheit der Zukunft. Sie machen aber diese im Alltag verdrängte Offenheit und Unsicherheit bewusst.

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„Just-in-time“-Produktion und -Distribution

In Gesellschaften, die sich auf „Just-in-time“-Produktion und -Anlieferung eingestellt haben, ist Vorratshaltung fast zu einem Fremdwort geworden. Bevorratet wird von Tag zu Tag, die Läger rollen auf Straße und Schiene, werden auf Schiffen oder in Flugzeugen transportiert. Sie sind on the road und nicht vor Ort. Diese Produktions- und Distributionsorientierung ist alles andere als krisen- und katastrophenrobust. Sie orientiert sich an einem Alltagskonzept, bei dem sich alles Erforderliche im stetigen reibungslosen Fluss befindet und bei Bedarf sofort verfügbar ist. Ein möglicher Verteilungskonflikt ist nicht vorgesehen. Allenfalls wird in Managementstrategien ein gegenläufiger Tauschkonflikt mitbedacht, der auf den Preis gerichtet ist, zu dem Güter veräußert oder erworben werden können (aus Anbietersicht: den höchsten Preis für das angebotene Gut zu erzielen; aus Erwerbersicht: den niedrigsten Preis für das gewünschte Gut zu zahlen). Die mögliche Nichtverfügbarkeit des Gutes – egal um welchen Preis – ist dabei gedanklich ausgeschlossen.

Dieser inzwischen gesamtgesellschaftlich verbreiteten „Just-in-time“-Orientierung stehen die Erfordernisse in Krisen- und Katastrophensituationen diametral entgegen. Katastrophenschützer und Katastrophenforscher plädieren seit Jahrzehnten dafür, dass die Bevölkerung für den Notfall bereits vorausschauend vorsorgt, das heißt, mit Lebensmittel-, Wasser- und Medikamentenvorräten hinreichend ausgestattet ist, da in Krisen und Katastrophensituationen eine zügige Versorgung der betroffenen Bevölkerung erschwert ist. Insofern könnten die „Hamster- und Panikkäufe“ als nachholende Vorsorge bezeichnet werden und kommen in diesem Sinne den Intentionen einer vorausschauenden Katastrophenvorsorge entgegen.

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Panik als Folge einer Knappheit von Zeit und Raum

Nun sind jene Fälle nicht von der Hand zu weisen, in denen Menschen in Ansammlungen tatsächlich so reagieren, dass die Etikettierung als panisch zutreffen kann.

Es handelt vornehmlich um Situationen, in denen sich Menschengruppen plötzlich in einer Engpasssituation befinden. Die knappen Güter sind in diesem Fall Raum und Zeit. D. h., die räumliche Engpasssituation tritt plötzlich auf und ist so gravierend, dass von Individuen unmittelbar gehandelt werden muss. Es bleibt keine Zeit mehr für einen situationsangemessenen Vorausentwurf des eigenen Handelns.

Beispiele: Ein Brand in einem Kino oder einer Diskothek. Notausgänge fehlen, sind nicht erkennbar oder verschlossen, von hinten drängen Menschen nach, die dem Feuer oder Rauch entfliehen müssen. Eine Engpasssituation in einem Stadion oder in einer Unterführung, z. B. bei der Love-Parade des Jahres 2010 in Duisburg. Auch in diesen Fällen drängen Menschen in einer Zahl und Dichte nach, dass die Situation den in Bedrängnis Geratenen als ausweglos erscheinen kann.

Zentrale Merkmale der Sozialität sind zum einen, dass der Mensch einen verstehenden Zugang zur Welt hat, um handeln zu können. Zum zweiten baut sich für ihn die soziale Welt um ihn herum sinnhaft auf. In den skizzierten Engpasssituationen wird ihm jedoch der verstehende Zugang verstellt. Weder reicht die Zeit für eine selbstreflektierende Interaktion noch für die verbale Kommunikation mit anderen. Es bleibt daher auch nicht die Zeit für ein sinnhaftes Deuten der um ihn herum ablaufenden Prozesse. In gewisser Weise werden Menschen in solchen Situationen dessen beraubt, was zum Kern ihres Menschseins gehört, der Möglichkeiten planvollen, sinnhaften und vernunftgesteuerten Handelns. Denn, bleibt dem Individuum kein Platz für ein selbstgesteuertes Handeln, wird der Konflikt um das in diesem Fall knappe Gut Raum virulent. Fühlt sich der Einzelne existenziell bedroht, kann es schließlich zum physischen Kampf um das knappe Gut Raum kommen und auch dazu, dass es zu Verletzungen und zum Verlust von Menschenleben kommt.

Vor diesem Hintergrund sind Arrangements, die aus den Computermodellen von Ingenieuren resultieren und z. B. Säulen als „Wellenbrecher“ vorsehen, ein schwacher Ersatz für das, was es bei der Konzeption von Gebäuden, Arenen, Durchgängen etc., insbesondere im Hinblick auf Großveranstaltungen, zu beachten gälte: Dass es nicht zu Konstellationen kommen darf, die Menschen fast zwangsläufig ihrer Vernunfthaftigkeit und damit auch ihrer Würde berauben.

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